Die Villa Jagenberg wird Amtsgericht

Am 20. August 1878 hat der Friedensrichter Mathieu auf das Jagenbergsche Besitztum aufmerksam gemacht. Auch die Eheleute Heinrich Ehemann und Frau erwähnen in einem Schreiben vom 7. Oktober 1878 an den Herrn Bürgermeister van Meenen in Solingen: "... Es verlautet, dass die Justizverwaltung beabsichtigt, das frühere Jagenbergsche Eigentum an der Wupperstraße für das Amtsgericht zu erwerben." Die Eheleute machen dann auf ihr an der Kaiser- und Cronenberger Straße gelegenes Grundstück aufmerksam und meinen, dass diesem Grundstück der Vorzug gegeben werden solle. "Das Jagenbergsche lmmobiliar ist am Ende der Stadt belegen und erst nach Benutzung von Nebenstraßen zu erreichen, während unser Eigentum an einer Hauptstraße der Stadt und beinahe im Mittelpunkt derselben sich befindet, und das Amtsgerichtsgebäude dort jedenfalls eine Zierde für die Stadt abgeben würde. ...".[1]

Abb 1 Villa Jagenberg um etwa 1860

 

 

Abb. 1: Villa Jagenberg um etwa 1860

 

Nun, es kam anders. In der Tat erwarb der preußische Staat das Jagenbergsche Besitztum an der Wupperstraße, und das dort stehende Wohnhaus des Fabrikanten von der Papiermühle wurde für 100 Jahre nach zwei Erweiterungsbauten eine Zierde für die Stadt. Der Fabrikant Emil Jagenberg, der die Papiermühle an der Wupper betrieb, war dreimal verheiratet gewesen und hatte insgesamt 12 Kinder. Für diese große Familie hatte er sich das zweieinhalbstöckige Wohnhaus in dem großen Park an der Wupperstraße 1857 gebaut. Er scheiterte allerdings als Geschäftsmann, verlor das Grundstück in einem Subhastationsverfahren (Zwangsversteigerung) an das Bankhaus Wickelhaus P. Sohn in Elberfeld und siedelte nach Düsseldorf über. Dort gründeten seine Nachkommen die Firma Jagenberg, die in Düsseldorf zu großem Erfolg gelangte. Die Papiermühle übrigens ging in den Besitz eines anderen Zweiges der Familie Jagenberg über.

Am 3. Januar 1879 erschienen August Keetmann, Bankier zu Elberfeld, handelnd als geschäftsführender Teilhaber des zu Elberfeld unter der Firma 1. Wichelhaus P. Sohn bestehenden und domizilierten Bankhauses einerseits und andererseits Ludolf Paschen, königlicher Landgerichtspräsident, und Anton Horten, königlicher Staatsprokurator, beide zu Elberfeld wohnend, der letztere in Vertretung des königlichen Oberprokurators Karl Lützeler zu Elberfeld, vor dem Notar in Elberfeld Johann Heinrich Josef Rudolf Mengelberg.

Auch diese notarielle Urkunde beginnt mit den Worten: "Wir Wilhelm von Gottes Gnaden König von Preußen etc. tun kund und fügen hiermit zu wissen, dass unser hiernach benannter Notar folgende Urkunde aufgenommen hat."

Es wurde das zu Solingen an der Wupperstraße gelegene Grundstück mit den Katasterbezeichnungen 349 und 350 nebst Wohnhaus, bestehend aus 2 1/2 Stock, 146 146 sowie einem massiven Nebenhause, an den preußischen Staat verkauft. In der Urkunde heißt es ausdrücklich, dass das Bankhaus dieses Immobiliar in der seinerseits gegen die Eheleute Emil Jagenberg, Kaufmann, und Hulda geborene Neuhaus, betriebenen Subhastation gemäß Akjudikationserkenntnis des königlichen Friedensgerichts zu Solingen vom 27. März 1878 eigentümlich erworben habe. Der Kaufpreis betrug 45.000,- Mark.[2]

Dieser notariellen Urkunde liegt ein Vermessungsplan der Gemeinde Solingen bei, aufgenommen und angefertigt im November 1878, aus dem sich ergibt, dass das Grundstück 367 Ruten groß ist.

Abb 2 Notarielle Urkunde von 1879

 

 

Abb. 2: Notarielle Urkunde von 1879

 

 

Im Sommer 1879 entstanden bereits, bevor noch das Gebäude bezogen werden konnte, Schwierigkeiten mit dem großen Garten. Der Landgerichtspräsident und der Oberprokurator zu Elberfeld baten mit Schreiben vom 19. August 1879 den Bürgermeister in Solingen um Vorschläge über die Benutzung des Gartens. Der Bürgermeister antwortete mit Schreiben vom 26. August 1879, dass wegen der nicht unbedeutenden Kosten und mit Rücksicht auf die vorhandenen Anlagen und Obstbäume eine Nutzung des zum Amtsgerichtsgebäude gehörigen Gartens als Gemüsegarten nicht zu empfehlen sei. Es wird vorgeschlagen, das Obst "unter der Hand zu verkaufen", weil bei zunehmender Reife des Obstes eine Entwendung zu befürchten sei.

Es heißt in dem Schreiben weiter, dass sich für eine Benutzung des Gartens in seiner gegenwärtigen Beschaffenheit schwerlich jemand bereit erklären werde, da die Kosten der Instandhaltung in keinem Verhältnis zu dem daraus zu ziehenden Nutzen ständen und die Annehmlichkeit nur für den Bewohner des Hauses in Anschlag zu bringen sei. Eine augenblicklich wünschenswerte Instandsetzung des Gartens würde einem Arbeiter auf längere Zeit Beschäftigung gewähren. Der Bürgermeister schlägt vor, jemandem die freie Benutzung des Gartens gegen die Verpflichtung aufzuerlegen, die notwendigsten Instandhaltungsarbeiten durchzuführen.[3]

Schließlich näherte sich der 1. Oktober 1879, der Tag des Umzugs des Friedensgerichts in das neu erworbene Gebäude an der Wupperstraße und des Beginns der Tätigkeit dieses Gerichts als Amtsgericht.

Friedensrichter Mathieu beeilte sich, noch möglichst viele Rechtssachen zu erledigen. Nach einer Zeitungsnachricht vom 17. September 1879 in der Bergischen Zeitung wurden "in der heutigen letzten Civilsitzung des Königlichen Friedensgerichts nicht weniger als 345 Klagesachen zur Verhandlung gebracht, wovon 260 durch Richterspruch definitiv erledigt wurden."

In dieser Zeit häufen sich die Zeitungsmeldungen über Versetzungen und Ernennungen von Richtern und Beamten für das neue Amtsgericht. So ist nach einer Meldung vom 26. September 1879 Gerichtsassessor Eduard Zwicke aus Saarbrücken zum Amtsrichter in Solingen ernannt worden. Am 10. September 1879 meldet die Bergische Zeitung, dass Justiz-Actuar Günther in Berlin als Gerichtsschreiber per 1. October 1879 an das Amtsgericht Solingen versetzt worden ist. Am 17. September 1879 enthält die Zeitung die Nachricht, dass Gerichtsschreibercandidat Weißleder aus Köln zum Gerichtsschreiber und der bisherige Gerichtsbote Möhring zu Bochum zum Gerichtsdiener beim hiesigen Amtsgericht ernannt sind.

In den beiden Solinger Zeitungen - der Bergischen Zeitung und dem Solinger Kreis-Intelligenz-Blatt - finden sich in dieser Zeit zudem Artikel, mit denen die Bevölkerung mit der neuen Gerichtsorganisation bekannt gemacht wird.

Am 6. Oktober 1879 ist es soweit. Es findet die feierliche Eröffnungssitzung im Amtsgerichtsgebäude statt. Die Bergische Zeitung erwähnt ausdrücklich das "neue Lokal an der Wupperstraße". Das gesamte Personal des neuen Amtsgerichts hatte sich in Amtstracht im Saale eingefunden. Der Saal befand sich damals gleich links vom seitlichen Eingang und hatte drei Fenster zur Straßenseite. Das Publikum war zahlreich vertreten. Der vorsitzende Amtsrichter Mathieu konnte die beiden Amtsrichter Zwicke und Dr. Engelbertz, die Gerichtsschreiber Kump, Günther und Weißleder sowie den Gerichtsschreibergehilfen Schütz begrüßen; außerdem die Gerichtsvollzieher Regendanz, v. d. Piepen, Schenk und Pothen sowie die Amtsdiener Möhring und Brandt. Letzter war bis dahin Polizei-Sergeant in Höhscheid gewesen.

Mathieu würdigte zunächst in seiner Ansprache die bisherige Tätigkeit der Rheinischen Friedensgerichte. Er selbst war schließlich 30 Jahre lang in Solingen Friedensrichter gewesen! Nach seinen Worten hatten die Friedensgerichte so wirksam gearbeitet, dass sie sich in den Herzen der Bevölkerung ein sympathisches Ansehen bewahren würden. Er betonte, dass die wesentlichen Grundlagen der Institution der Friedensgerichte auch für das künftige Amtsgericht gelten würden. Deshalb dürfte die neue Institution mit Vertrauen begrüßt werden, und es dürfte erwartet werden, dass sich die neuen Gerichte als lebenskräftig erweisen und insbesondere die Amtsgerichte als Schwerpunkt der neuen Gesetzgebung erweisen würden.[4]

Nun, die Lebenskraft scheint nach Ablauf von 100 Jahren in der Tat erwiesen zu sein. Und als Schwerpunkt der neuen Gesetzgebung können die Amtsgerichte zumindest insoweit gelten, als es sich um die Vielzahl der erledigten Verfahren handelt.

Die feierliche Stimmung dieser Eröffnungssitzung vom 6. Oktober 1879 spürt der Leser der alten Zeitungsmeldungen noch jetzt, wenn er liest, dass Amtsrichter Mathieu die Anwesenden aufforderte, sich zu erheben, um mit ihm in ein dreifaches Hoch auf den Schutz- und Schirmherren des Rechtes, den erhabenen Repräsentanten der Größe und Macht des deutschen Vaterlandes, unseren allergnädigsten Kaiser und König Wilhelm I., einzustimmen. Das taten die Anwesenden denn auch "mit Begeisterung" und "kräftig".

Gleich nach diesem Festakt schritt man zur Tagesordnung und loste die Hauptschöffen für die Sitzungen des Schöffengerichts bis Dezember 1879 aus.

Während Amtsrichter Zwicke für die Zivilgerichtsbarkeit zuständig war und Amtsrichter Dr. Engeibertz die Konkurs- und Vormundschaftssachen bearbeitete, wurde Amtsrichter Mathieu Strafrichter.

Die erste Sitzung des Schöffengerichts fand am 13. Oktober 1879 statt. Als Schöffen wurden August Schnitzler aus Solingen und F. G. Dültgen aus dem Dültgenstal vereidigt. Ein Fall wegen Diebstahls wurde mit 1 Tag Gefängnis und ein Fall wegen Amtsbeleidigung mit 5 Mark Geldstrafe geahndet.

Nicht immer konnten die Richter in den folgenden Jahren und Jahrzehnten so milde sein. Die alten Akten weisen eine reiche Korrespondenz über die Frage der Unterbringung der Gefangenen aus. In den 20 Jahren bis zur Fertigstellung des ersten Erweiterungsbaues traten immer wieder Schwierigkeiten bei der Beschaffung von geeigneten Räumlichkeiten auf. Schon mit Schreiben vom 12. Oktober 1878 erkundigten sich Landgerichtspräsident und Oberprokurator in Elberfeld bei Bürgermeister van Meenen in Solingen nach dem hiesigen Kantonsgefängnis und nach den Möglichkeiten der Erweiterung bzw. Vermehrung der Gefängnislokalien.[5]

Ein Brief des königlichen Landratsamts des Kreises Solingen vom 9. Juni 1881 beschäftigt sich mit dem Fehlen einer Badewanne und eines Reinigungsapparates für die Kleider der Gefangenen, was bei Gelegenheit der Feststellungen über den angeblichen Brandweingenuß der Gefangenen bemerkt worden ist. Es wird mitgeteilt, dass die königliche Regierung die Beschaffung dieser Gegenstände angeordnet habe.

Zur Feststellung des Raumbedarfs für ein Gefängnis in Solingen teilte der Gefangenaufseher Nordmann dem Bürgermeister van Meenen mit, dass 1887 77 Personen an 1012 Tagen, 1888 74 Personen an 655 Tagen und 1889 148 Personen an 1867 Tagen verwahrt worden seien.

Aus einem Bericht des Landrats aus Solingen vom 10. Januar 1891 ergibt sich, dass 4 Untersuchungsgefangene gewaltsam aus dem hiesigen Kantonsgefängnis ausgebrochen seien. Es wird bemerkt, dass der Neubau eines Gerichtsgefängnisses am hiesigen Ort auch neuerdings wieder dem Herrn Regierungspräsidenten als notwendig bezeichnet worden sei.[6]

Die Entwicklung steuert in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf einen großen Erweiterungsbau einschließlich eines Amtsgerichtsgefängnisses hin.

Vorher mußten jedoch noch Räume zur Unterbringung des neuen Grundbuchamts angemietet werden. So wurde am 8. November 1890 das Erdgeschoß des früheren Rathauses der Gemeinde Dorp behufs Einrichtung von Geschäftsräumen für die Grundbuchanlegung angemietet. Dieser Vertrag ist von dem aufsichtsführenden Amtsrichter Dr. Gottschalk unterzeichnet. Das Grundbuchamt hieß damals "Grundbuchanlegungskommission" .[7]

Aber auch Bauangelegenheiten nahmen damals - wie heute - einen großen Raum ein. Ein Schreiben des Präsidenten des Oberlandesgerichts und des Oberstaatsanwalts aus Köln - damals für Solingen und Elberfeld zuständig - vom 11. Januar 1886 beschäftigt sich mit der abgeschlossenen Vereinbarung über die Pflasterung des Trottoirs vor dem fiskalischen Amtsgerichtsgebäude zu Solingen. Am 18. Februar 1886 schreibt Amtsrichter Mathieu dem Landgerichtspräsidenten in Elberfeld, dass die Arbeiten bereits soweit ausgeführt worden sind, dass sie binnen weniger Tage vollendet werden können, sobald die Witterung die Wiederaufnahme gestattet.

Ein Schreiben des aufsichtsführenden Richters Mathieu vom 9. Februar 1888 an den königlichen Landgerichtspräsidenten zu Elberfeld beschäftigt sich mit Tapetentüren, die auf Veranlassung des gegenwärtig in Düren fungierenden Herrn Amtsrichters Mehren angebracht worden seien, um in den betreffenden Richterzimmern ungestört von den in den benachbarten Gerichtsschreibereien stattfindenden Reden arbeiten zu können. [8]

 

In jener Zeit klapperten noch keine Schreibmaschinen, die stören konnten; die Schreiber fertigten an den Stehpulten ihre handgeschriebenen Urkunden an. Das allerdings war Schwerarbeit. Als Justizamtmann Eugen Bäcker nach 47 Jahren Staatsdienst ausschied, erinnerte er sich daran, dass noch 1910 die Hilfsschreiber in einem furchtbaren Akkordsystem die Schreibarbeiten verrichten mußten.[9]

Ein Schreiben des Amtsgerichtsrats Mathieu vom 9. Februar 1888 beschäftigt sich mit der dringend notwendigen Reparatur des Gartenzaunes und mit dem Anstrich von Türen und Fenstern. Es heißt darin, dass insbesondere die Neutapezierung der Wohnstube des Kastellans dringend nötig sei. Die Tapeten hingen bereits teilweise in Fetzen herunter, namentlich im Treppenflur. Dieses mache einen recht unangenehmen Eindruck.

Im April 1888 mußte dringend eine neue preußische Nationalfahne angeschafft werden. Sie kostete 31,50 Mark.

Aus einem Bericht des Amtsrichters Gottschalk vom 28. Januar 1889 geht hervor, daß drei Dielen in dem Richterzimmer der Abteilung 1 beinahe ganz ausgetreten seien, die starken Holzfasern stünden bis 5 cm über die Dielenfläche hinaus, hinderten das Gehen und verdürben das Schuhwerk.

Die Neubeschaffung dieser Dielen sei unbedingt erforderlich. In demselben Bericht wird darauf hingewiesen, dass bis jetzt im Amtsgericht nur eine Schelle für ein Richterzimmer im Erdgeschoß existiere, um den Gerichtsdiener herbeirufen zu können. Wenn dieser anderweitig erforderlich sei, müsse er erst in seinem Dienstzimmer aufgesucht werden. Dies sei außerordentlich störend und zeitraubend, namentlich weil das Zimmer des Gerichtsdieners im Parterre liege und die meisten Geschäftsräume im ersten Stock. Es wird eine elektrische Verbindung der einzelnen Zimmer mit dem des Gerichtsdieners vorgeschlagen.[10]

Leider erfahren wir aus den alten Akten nicht, ob diese technische Neuerung eingeführt worden ist.

Abb 3 Koenigliches Amtsgericht

 

 

Abb. 3: Königliches Amtsgericht

 

Abb 4 Grundriss des alten Amtsgerichts Solingen

 

 

Abb. 4: Grundriss des alten Amtsgerichts Solingen

 

 

Raumnot gab es damals wie heute. In einem ausführlichen Bericht des aufsichtsführenden Amtsrichters Gottschalk vom 1. März 1890 heißt es, dass beim Mangel anderweitiger Räume dem Hilfsrichter das Beratungszimmer des Schöffengerichts habe zur Verfügung gestellt werden müssen. Die drei Beratungszimmer unserer jetzigen Sitzungssäle sind schon seit langem Arbeitszimmer von Richtern. Hinsichtlich der Einrichtung dieser richterlichen Dienstzimmer hat sich allerdings im Laufe der Jahrzehnte doch einiges geändert. 1890 befanden sich folgende Utensilien darin: Schreibtisch mit Aufsatz, Stehpult mit Aktenbrettern, 4 Rohrstühle, Aktenständer mit 10 Fächern, ein eintüriger Kleiderschrank, verschließbar, ein Tintenfaß, ein Regenschirmständer, eine Wasserflasche mit Trinkglas und Untersatz, ein Porzellanspucknapf, ein Papierkorb, ein Waschgefäß mit Zubehör und kleinem Spiegel, eine Fußmatte, eine Papierschere, ein Lineal, eine Lampe.

1891 wurde angeregt, das Gerichtsgebäude in der Wupperstraße (damals mit der Hausnummer 60) gegen das der Stadtgemeinde Solingen gehörige Rathausgrundstück der früheren Gemeinde Dorp zu tauschen. Diese Anregung veranlaßte den aufsichtsführenden Amtsrichter Gottschalk zu einem Loblied auf Grundstück und Gebäude an der Wupperstraße. "Anlagend die Lage der beiden Grundstücke, so befindet sich das jetzige Amtsgericht nur wenige Minuten von dem verkehrsreichsten Teile der im allgemeinen rasch aufblühenden Stadt Solingen entfernt, in einer Gegend, wo die Bautätigkeit in den letzten Jahren besonders rege gewesen ist, und bis dahin unbebaute Straßen zu belebten Verkehrswegen sich entwickelt haben. So ist die Wupperstraße selbst in dem unteren Teile, in welchem das fiskalische Grundstück liegt, jetzt vollständig ausgebaut, während noch vor wenigen Jahren eine Anzahl von Baustellen in der nächsten Nachbarschaft zu finden waren ... Das Gebäude selbst ist von vorzüglichster Beschaffenheit. Die Mauern, von Bruchsteinen hergestellt, haben eine Dicke von über 60 cm, das Holzwerk ist von untadelhafter Güte, die Höhe der Fluren und Zimmer im Erdgeschosse und im ersten Stockwerk beträgt gleichmäßig 4,05 m, Zimmer und Treppenhaus, welch letzteres mit Raumverschwendung hergerichtet ist, sind durch reichliches Tageslicht erhellt."

 

Es folgt dann eine Beschreibung des Grundstücks des Dorper Rathauses. Es "liegt abseits von den Verkehrswegen an einer Straße, für welche Bürgersteig und Pflasterung als ein Bedürfnis noch nicht empfunden werden, am äußersten Ende des mit Häusern besetzten Teiles von Solingen, in der am 1. Januar 1889 mit Solingen vereinten Gemeinde Dorp, von dem Verkehrsmittelpunkt von Solingen etwa 12 Minuten entfernt und von dem Bahnhofe Solingen-Süd in etwa 8 Minuten auf holprigen Wegen erreichbar ..."

Die Hoffnungen auf eine baldige Erweiterung des Amtsgerichtsgebäudes wurden jedoch durch eine Verfügung des Präsidenten des Oberlandesgerichts Köln vom 15. Dezember 1891 gedämpft, in der es heißt, daß das Projekt einer Erweiterung des Gebäudes in Solingen vorläufig ruhen solle, bis sich der künftige Raumbedarf des Amtsgerichts Solingen besser übersehen lasse.[11]

In diesen Jahren waren 7 Richter in Solingen tätig. Ein Richter ging an das 1895 errichtete Amtsgericht Ohligs. Nach der Abzweigung der Stadtgemeinde Ohligs umfaßte der Amtsgerichtsbezirk Solingen 73.000 Einwohner, so dass auf einen Richter eine Einwohnerzahl von 12.333 entfiel.

1894 hatte sich die Zahl der Zivilprozesse gegenüber dem Vorjahr von 2.400 auf 2.800 erhöht, die der Urkundenprozesse von 600 auf 730, die der kontradiktorischen Urteile von 336 auf 400. An Arresten und einstweiligen Verfügungen wurden 250 gezählt, Zwangsversteigerungsverfahren fanden in 70 Fällen statt, die Konkurse stiegen auf 25 Sachen an. In Strafsachen wurden 600 Anklagen wegen Vergehen, 418 Übertretungen und 92 Privatklagesachen verhandelt.[12]

Aus der Tatsache, dass diese Arbeitslast von 7 Richtern ohne Beteiligung der noch nicht vorhandenen Rechtspfleger bewältigt wurde, ist zu entnehmen, wie sich die Dinge im Laufe der Jahrzehnte kompliziert haben. Allerdings dürfen wir nicht nur auf die Veränderung der Lebensvorgänge, die schwierigen Gesetze und ihre rasche Änderung hinweisen, sondern wir müssen auch bedenken, dass sich der Rechtsschutz im Interesse der Bürger ganz entschieden verbessert hat.

Die Akten des Stadtarchivs enthalten aus dem Jahre 1893 die erste Andeutung aus Berlin, dass der Erweiterungsbau einschließlich des Gefängnisses nun gebaut werden solle. Am 24. Mai 1898 waren der rechte Giebel mit dem neuen Eingang und dem neuen Treppenhaus, der dreistöckige hintere Anbau und das Gefängnis vollendet. An diesem Tage wurde nachmittags um 5 Uhr das neue Gebäude übergeben. Abends 7 1/2 Uhr fand im Kasino ein Festessen statt. Amtsgerichtsrat Dr. Gottschalk lud den Oberbürgermeister der Stadt Solingen ein und ersuchte ihn, am Festessen teilzunehmen. Als Preis des Gedeckes des Festessens wurden 3,50 Mark genannt.

Auf diesem Schreiben befindet sich in den städtischen Akten des Stadtarchivs die handschriftliche Verfügung: ,,1. Zusage erteilt. 2. Zu den Akten. Solingen, 21.5. 1898". Von dieser Verfügung ist die Ziffer 1 gestrichen und - aus welchen Gründen auch immer - mit dem Vermerk versehen worden: "Entschuldigungsschreiben abgesandt.[13]

Wenn auch dieses Festessen ohne den Oberbürgermeister stattgefunden hat, so ist doch anzunehmen, daß man die Einweihung des großen Erweiterungsbaues gebührend gefeiert hat. Das ursprünglich zweieinhalbstöckige Jagenberg'sche Besitztum wird nun im Vergleich zu der Erweiterung als kleiner Anbau erschienen sein, wie auf dem alten Lichtbild aus dieser Zeit zu erkennen ist. Stumme Zeugen jener Zeit sind die Jahreszahlen ,,1896" an der rückwärtigen Front des Anbaus und ,,1897" an dem schmiedeeisernen Gitter an der Treppe zum Keller.

Es fällt auf, dayy einige Richter einmal "Amtsrichter" und dann "Amtsgerichtsrat" genannt werden. Zur Erklärung kann auf den Allerhöchsten Erlaß vom 11. August 1879 betreffend die Rangverhältnisse der richterlichen Beamten und der Beamten der Staatsanwaltschaft bei den mit dem 1. Oktober 1879 ins Leben tretenden Gerichtsbehörden, veröffentlicht in der Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten Nr. 34, Seite 579, hingewiesen werden. Hiernach gehörten die Landrichter, die Amtsrichter und die Staatsanwälte zur fünften Rangklasse der höheren Provinzialbeamten. Einem Teile der Landrichter und Amtsrichter konnte durch die Ernennung zum Landgerichtsrat oder zum Amtsgerichtsrat persönlich ein höherer Amtscharakter mit dem Range der Räte der vierten Klasse verliehen werden, sobald mindestens ein zwölf jähriges richterliches Dienstalter erreicht war. Diese Verleihung sollte jedoch nicht über ein Drittel der Gesamtzahl umfassen. Zur vierten Klasse gehörten die Oberlandesgerichtsräte, die Landgerichtsdirektoren und die Ersten Staatsanwälte.

Nach Brockhaus, 14. Auflage aus dem Jahre 1908, sollten übrigens die Amtsrichter bei gleicher Vorbildung wie die Mitglieder der Landgerichte in ihrer einflußreichen Stellung einen Ausgleich dafür finden, dass sie zum weitaus größten Teil in kleinen Orten leben und der geistigen Anregung kollegialen Zusammenwirkens entbehren müssen; die meisten deutschen Staaten gaben damals den Amtsrichtern die gleiche Besoldung wie den Mitgliedern der Landgerichte, um auch dadurch den häufigen Wechsel in den Amtsrichtersteilen zu vermeiden.

Amtsgerichtsrat Mathieu ist kurz vor seinem Tode Ende Dezember 1888 mit einem Jahresgehalt von 6.000 Mark aufgeführt. Amtsgerichtsrat Trutschler erhielt ab 1.4. 1889 jährlich 5.400 Mark, Amtsrichter Gottschalk, der die Dienstaufsicht führte, erhielt 3.300 Mark. Er war außerdem Vorsitzender des Schiedsgerichts betreffend die Invaliden und Altersversicherung. Die Amtsrichter Fritzsche und Gerber verdienten jährlich 2.400 Mark, Amtsrichter Schwan 3.300 Mark. Die Gerichtsassessoren, die zur Vertretung erkrankter oder für längere Zeit beurlaubter Amtsrichter an das Amtsgericht Solingen abgeordnet wurden, erhielten monatlich Diäten von 180 Mark neben den gesetzlichen Reisekosten.[14]

Die Ernennung eines Amtsrichters wurde aus Berlin mit folgender Verfügung mitgeteilt:

"Seine Majestät der König haben den Gerichtsassessor Dr. Gottschalk in Düsseldorf zum Amtsrichter zu ernennen geruht. Gottschalk ist aufgefordert, sein neues Amt als Amtsrichter bei dem Amtsgericht in Solingen am 1. Juni 1888 anzutreten."

Mit Verfügung vom 22. Mai 1888 gibt der Präsident des Oberlandesgerichts Köln dem königlichen Herrn Landgerichtspräsidenten in Elberfeld auf, die Stempelabgabe für das Patent von 1,50 Mark als Gerichtsgebühr vereinnahmen zu lassen.[15]

Wir erinnern uns an den Silbergroschen, der zu Zeiten des königlichen Friedensgerichts von jeder aufgerufenen Zivilsache erhoben wurde. So mußte später noch der neu ernannte Amtsrichter die Stempelabgabe für sein Patent bezahlen.

Die Schwierigkeiten der Einarbeitung in die zum 1. Januar 1900 in Kraft tretende neue Gesetzgebung, insbesondere des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), treten in einem Bericht des Amtsgerichtsrat Gottschalk vom 8. Juni 1899 hervor. Dort heißt es, daß den Richtern während der Gerichtsferien ein Urlaub von 1 1/2 Monaten gewährt werden möge, um ihnen das Einarbeiten "einigermaßen" zu erleichtern. Es wird deshalb um Zuweisung von zwei richterlichen Beamten gebeten. Die Verlängerung des Ferienurlaubs ist allerdings ebenso abgelehnt worden wie die Zuweisung von Hilfsrichtern.[16]

Schwierigkeiten bestanden um die Jahrhundertwende ebenso wie heute wegen der Bedienung der Heizung.

Mit Schreiben vom 19. März 1901 teilt der Gerichtsdiener Bubbel dem Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten in Köln durch die Hand des Herrn aufsichtsführenden Amtsrichters in Solingen mit:

"Euer Hochwohlgeboren bitte ich hierdurch ganz gehorsamst, mich von der Reinigung und Heizung des hiesigen Amtsgerichtsgebäudes hochgeneigtest entbinden zu wollen ...

Ich bin beinahe 53 Jahre alt, habe den Feldzug 1870/71 gegen Frankreich mitgemacht und bin im Jahre 1879 als dauernd Ganzinvalide und dauernd erwerbsunfähig vom Militär entlassen worden. Ich leide seit dieser Zeit sehr oft an Gicht und rheumatischen Schmerzen. Namentlich diesen Winter habe ich fortgesetzt Reißen in den Armen und Beinen gehabt, so dass ich häufig nicht imstande war, die vielen, mich körperlich sehr anstrengenden Arbeiten, die in diesem großen Gebäude erforderlich sind, zu leisten. Das Kohlentragen aus dem Keller bis in die oberen Stockwerke (bis in das 2. Stockwerk am Ende des Flures eine Entfernung von 85 m) ist eine Arbeit, die höchstens ein junger und starker Mann besorgen kann. Meine Frau ist ebenfalls ungesund und kann die Arbeiten nicht mehr leisten. Ich liege augenblicklich krank an einem Magen- und Leberleiden sowie Lungenspitzenkatarrh.

Ich bitte nochmals ganz gehorsamst um recht baldige Ablösung von den Arbeiten:' Der aufsichtführende Amtsrichter schreibt hierzu:

"Die in dem Gesuch angegebenen Tatsachen entsprechen der Wahrheit. Die Schwierigkeit, das große Gebäude rein zu halten, ist nicht gering. Dazu kommt, dass die Heizung durch Öfen erfolgt, zu denen das Heizungsmaterial von der an einer Seite des Kellers gelegenen Stelle befördert werden muß. Im Ganzen bedarf es jeden Tag der Heizung und Bedienung von nicht weniger als 30 Öfen, wobei die in der Wohnung des Kastellans nicht mehr gezählt sind.

Bubbel, der die Kastellangeschäfte seit dem 1. Oktober 1899 führt, ist tatsächlich der Arbeit nicht gewachsen. Wenngleich er von seinen Kindern und seiner Frau unterstützt wird, auch fremde Hilfskräfte in jeder Woche hinzuzieht, werden die notwendigen Arbeiten nicht ordnungsgemäß verrichtet, so dass es wünschenswert ist, es möge eine jüngere und gewandtere Kraft mit den Geschäften betraut werden.

  

Die Suche nach einem neuen Kastellan dauerte lange. Die aufsichtführenden Amtsrichter aus Lennep, Barmen, Remscheid, Ohligs, Wermelskirchen, Velbert, Mettmann, Elberfeld, Langenberg und Ronsdorf konnten keinen Gerichtsdiener nennen, der bereit gewesen wäre, in Solingen Kastellan zu werden. Schließlich konnte der Präsident des Oberlandesgerichts Köln am 16. Oktober 1903 den Gerichtsdiener Dummer aus Trier ab 1. Dezember 1903 mit seinem bisherigen Gehalt von jährlich 1.500 Mark und dem "Genusse" einer Dienstwohnung in der Amtseigenschaft als Gerichtsdiener und Kastellan an das Amtsgericht in Solingen versetzen. Es wurde ihm gestattet, das zu seinem häuslichen Bedarf erforderliche Feuerungsmaterial aus den Beständen des Amtsgerichts gegen Entrichtung einer jährlichen Vergütung von 42 Mark zu entnehmen.

Unser heutiger Hausmeister und seine Vorgänger werden sagen, man hatte einen "Dummen" gefunden. Ist doch auch das Betreiben der jetzigen Koksheizung in den Wintermonaten ein überaus hartes Geschäft.[17]

 

Die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts sind von den Bemühungen erfüllt, den Justizminister in Berlin für die Errichtung eines Landgerichts in Solingen zu interessieren. Der weithin bekannte Oberbürgermeister der Stadt Solingen Dicke wandte sich am 21. Januar 1904 an den Minister in Berlin mit dem Hinweis auf die starke wirtschaftliche Entwicklung der Industriebezirke der Rheinprovinz und das Anwachsen der richterlichen Geschäfte, womit eine starke Überlastung des Landgerichts Elberfeld verbunden sei. Nach dieser Denkschrift gehörten zum Amtsgerichtsbezirk Solingen Solingen mit 47.419, Wald mit 20.795, Höhscheid

mit 15.106 und Gräfrath mit 8.300 Einwohnern; Ohligs umfaßte als selbständiger Bezirk 20.800 Einwohner. Die Stadtverordnetenversammlung habe sich in der Sitzung vom 19. Januar 1904 einstimmig mit der Übernahme des Baus eines neuen Landgerichtsgebäudes gegen eine entsprechende Verzinsung einverstanden erklärt. Der aufsichtsführende Amtsrichter Dr. Gottschalk in Solingen hat sich dieser Denkschrift mit einem umfassenden Bericht vom 14. März 1904 betreffend die Errichtung eines Landgerichts bzw. einer Kammer für Handelssachen oder einer Strafkammer in Solingen angeschlossen.[18]

Dieser Versuch ist allerdings ebenso wie ein zweiter Versuch vom Oktober 1906 gescheitert. Der Justizminister in Berlin wollte die Errichtung eines Landgerichts in Solingen nicht in Aussicht nehmen.

80 Jahre früher hatte das Oberlandesgericht die Stadt Solingen vergeblich gedrängt, ein Gerichtsgebäude für die Unterbringung des geplanten Landgerichts zur Verfügung zu stellen. Nachdem Solingen Anfang des 19. Jahrhunderts unter preußische Verwaltung gekommen war, wählte Oberlandesgerichtspräsident Sethe Solingen wegen der Bedeutung der Stadt für Gewerbe und Verkehr und wegen der wohlhabenden Bevölkerung als Sitz eines Landgerichts aus. Auf die erste unbefriedigende Antwort des Gemeinderats erwiderte der Präsident, dass dem Gemeinderat wohl die Verhältnisse nach preußischer Justizverfassung unbekannt seien, dass nämlich die Errichtung solcher Gerichte sich als Vorteil für die Gemeinde anbiete. Er erbat innerhalb von acht Tagen eine bindende Zusage über die kostenlose Bereitstellung eines Gerichtsgebäudes und die Wohnungsbeschaffung für 22 Justizbedienstete. Trotz einiger Bemühungen der Stadt und der Gesellschaft "Zur Erholung" kam das Landgericht 1834 nach Elberfeld.[19]

Die Geschäfte nahmen weiterhin zu. Die Diensträume des Gerichtsgebäudes reichten trotz des großen Erweiterungsbaues von 1896/1898 nicht mehr aus.

Am 7. November 1914 erhielten Justiz- und Finanzminister in Berlin aus Solingen einen Bericht, daß sich die "Überfüllung der Geschäftsräume als eine Störung des Geschäftsbetriebes geltend mache". Es wird auf die Notwendigkeit der Erweiterung des Gebäudes durch Anbau eines Flügels an der Ostseite hingewiesen.

Der weitere Inhalt dieses Berichts kennzeichnet die Lage während der ersten Kriegszeit:

"... Die Solinger Stahlwarenindustrie ist zum weitaus überwiegenden Teil auf die Ausfuhr nach Amerika, Frankreich, Rußland, England und den englischen Kolonien, insbesondere Kanada und Ostindien, sowie die niederländischen Kolonien, angewiesen. Da diese Ausfuhr durch den Krieg vollständig unterbunden ist, ruhen die meisten Betriebe der hiesigen Stahlwarenfabrikation seit Anfang August dieses Jahres vollständig, wodurch mehrere tausend Arbeiter beschäftigungslos geworden sind. ... Die Arbeitslosigkeit der Arbeiter in der eine Bevölkerung von 51.000 Seelen zählenden Stadt Solingen hat einen nicht unbedenklichen Umfang angenommen. Zur Zeit sind mehr als 3.500 Arbeiter ohne Verdienst. Nur etwa 10 % der sich auf etwa 12.000 belaufenden Industriearbeiter sind vollbeschäftigt. Das sind diejenigen Arbeiter, die bei der Herstellung blanker Waffen und chirurgischer Instrumente tätig sind, während 25 v. Hundert vollständig ohne Beschäftigung sind, der Rest aber nur an einigen Tagen in der Woche zu arbeiten Gelegenheit hat. Ebenso trostlos ist die gegenwärtige Lage des hiesigen Bauhandwerks.[20]

Aus diesen Gründen wird die Bitte ausgesprochen, den an sich notwendigen Vergrößerungsbau des hiesigen Amtsgerichts sobald als tunlich in Angriff zu nehmen und die dazu notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen.

Nach einem Vermerk vom 13. November 1915 ist mit den Bauarbeiten inzwischen begonnen worden. Ein Vermerk vom 3. Dezember 1917 weist aus, dass der Erweiterungsbau des hiesigen königlichen Amtsgerichtsgebäudes inzwischen fertiggestellt worden ist.[21]

So hat unser Gerichtsgebäude mitten im ersten Weltkrieg durch den Anbau des linken Giebels und den Ausbau des dritten Stockwerks seine heutige Form und die harmonische Fassade erhalten, deretwegen viele meinen, dass das Gebäude, wie es heute steht, von Anfang an so gebaut worden sei. Wir können den Architekten und Baumeistern deshalb nur unsere Hochachtung dafür bezeugen, dass es ihnen gelungen ist, trotz zweier Erweiterungsbauten ein Gebäude wie aus einem Guß herzustellen. Es handelt sich mit Recht um eine architektonische Sehenswürdigkeit, die auf lange Sicht erhalten werden sollte, um auch weiterhin "eine Zierde für die Stadt" zu sein.

Fassade und Umfassungsmauern trotzten sogar dem Bombenhagel des Luftangriffs vom 5. November 1944, obwohl das Gebäude selbst schwer beschädigt wurde. Das Gericht zog ganz in das Amtsgerichtsgebäude in Ohligs, in dem seit der Auflösung im Jahre 1943 noch einige Abteilungen untergebracht waren. Bereits vor der Währungsreform von 1948 begann der Wiederaufbau des Gerichtsgebäudes in der Wupperstraße. Er war schwierig genug. Nur der Tresor und zwei Kassenräume waren beim Angriff übriggeblieben. Der Ostflügel war am wenigsten beschädigt. Er konnte bereits im Mai 1946 wieder bezogen werden. Vorher war vergeblich versucht worden, aus zwei ausgegrabenen Heizkesseln des zerstörten Katasteramts einen neuen herzustellen. Eine Ohligser Firma konnte dagegen aus den in den Trümmern des Gerichtsgebäudes gefundenen drei Heizkesseln einen brauchbaren neuen zusammenbauen. Das Baulenkungsamt hatte lediglich vier Sack Gips zur Verfügung stellen können. Türen mußten aus zusammengeschlagenen Brettern gezimmert werden. Löcher in Wänden und Fußböden wurden behelfsmäßig zugeschmiert. Im Mai 1946 konnten die in die Rhön ausgelagerte Grundbuchabteilung und die Freiwillige Gerichtsbarkeit in den Ostflügel einziehen. 1949 ging es vor allem um die Wiederherstellung des Daches, das bis dahin noch gefehlt hatte.

Amtsgerichtsdirektor Röhrig setzte sich für ein bergisches Schieferdach ein. Neun Lastzüge mit 75 Tonnen Moselschiefer konnten schließlich anfahren. 8 Solinger Dachdeckermeister richteten mit sieben Körben Schiefernägeln und 500 kg Walzblech das Dach her.

Beim Aufbau des West- und Südflügels wurde darauf geachtet, dass die ehemals finsteren Gänge mit Hilfe von Durchbrüchen zu den Zimmern heller gestaltet wurden. Nach und nach wurden die ausgelagerten Abteilungen wieder in die Wupperstraße verlegt. Aber erst am 15. September 1952 konnte das Gebäude in Solingen-Ohligs endgültig geräumt werden.[22]

Es zeigte sich bald, daß für die vielen Autofahrer dringend ein Parkplatz geschaffen werden mußte. So mußte der Rasen vor dem Gerichtsgebäude weichen, zumal er "in den letzten Jahren ohnehin nicht mehr in guter Verfassung gewesen war", wie es in der Zeitung stand. Einige Zeit hielt sich noch ein Blumenbeet an der westlichen Seite. Es ist aber ebenso verschwunden wie die Bepflanzung im Innenhof.[23]

Von 1895 bis 1943 hatte das Amtsgericht Ohligs bestanden. Erster Amtsrichter war Dr. Adolf Lucas, der am 10. April 1889 durch den Amtsrichter Dr. Wolff abgelöst wurde. Dr .Lukas ist von 1900 bis 1927 Landrat des Kreises Solingen gewesen.

Hier handelt es sich um einen Vorgänger des Amtsgerichtsrats Dehl, der nach jahrelanger richterlicher Tätigkeit jetzt Beigeordneter und Stadtdirektor in Solingen ist. Vor ihm schon war Amtsgerichtsrat Dr. Rewoldt in gleicher Eigenschaft nach Essen gegangen.

Für die Allgemeinheit hat sich über Jahre hinweg über seinen richterlichen Beruf hinaus Amtsgerichtsrat Dr. Gottschalk (1889 - 1913) als Abgeordneter des preußischen Abgeordnetenhauses, später des Landtages in Berlin, eingesetzt. In unserer Zeit sind die Richter am Amtsgericht Dr. van EIs und Kohlmann Mitglieder des Stadtrates bzw. der Bezirksvertretung in Solingen.

Vielfältig sind die Beziehungen zwischen Gericht und Stadt. Das hat sich auch bei den zurückliegenden Verhandlungen zwischen Justiz und Stadt über den Erwerb eines Grundstücks für den Neubau des Gerichtsgebäudes gezeigt, die nunmehr zu einem Abschluß gekommen sind. Die Verwirklichung des geplanten Bauvorhabens an der Goerdelerstraße wird zeigen, wie stark das Gericht in Solingen verwurzelt ist.

Überblicken wir die 100jährige Geschichte des Amtsgerichts Solingen, so zeichnen sich drei Zeitabschnitte ab, denen drei Generationen entsprechen.

Die Zeit nach 1871 war noch von Preußen geprägt. Bismarck bestimmte unter Kaiser Wilhelm I. die Politik. Das erste Stichwort ist der Kulturkampf, die Auseinandersetzung zwischen dem Staat und der Kirche, aus der u. a. die Einführung der Zivilehe, die Eheschließung vor dem Standesbeamten, geblieben ist.

Das zweite Stichwort sind die Sozialistengesetze. 1878 wurden zwei Attentate auf den greisen Kaiser verübt. Sie führten zu dem "Allerhöchsten Erlaß vom 4. Juni 1878", veröffentlicht in der Gesetzessammlung für die Königlichen Preußischen Staaten Nr. 21, Seite 253, betreffend die Beauftragung Sr. Kaiserlichen und Königlichen Hoheit des Kronprinzen mit der Stellvertretung Sr. Majestät des Kaisers und Königs in den Regierungsgeschäften:

"Da Ich in Folge Meiner Verwundung zur Vollziehung der nöthigen Unterschriften augenblicklich nicht im Stande bin, Ich auch nach Vorschrift der Ärzte, um die Heilung der Wunden nicht aufzuhalten, Mich aller Geschäfte enthalten soll, so will Ich Eurer Kaiserlichen und Königlichen Hoheit und Liebden für die Dauer Meiner Behinderung Meine Vertretung in der oberen Leitung der Regierungsgeschäfte übertragen. Eure Kaiserliche und Königliche Hoheit und Liebden ersuche Ich, hiernach das Erforderliche zu veranlassen."

Das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie ist vom 21. Oktober 1878, Reichsgesetzblatt Nr. 34, Seite 351; § 1 lautet:

"Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten."

Das dritte Stichwort schließlich sind die in den Jahren 1883 bis 1889 erlassenen Sozialgesetze, mit denen eine in aller Welt vorbildliche Arbeiterschutzgesetzgebung eingeleitet wurde.

In diese Zeit fällt der Tod des alten Kaisers am 9. März 1888, die kurze Regierungszeit des Sohnes Friedrich III., der nach 100 Tagen am 15. Juni 1888 seinem Krebsleiden erlag, und der Beginn der Regierungszeit des damals 29jährigen Kaisers Wilhelm II., der Entlassung Bismarcks am 20. März 1890 und seines Todes am 30. Juli 1898.

30 Jahre großer Politik, mächtiger gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Veränderungen und zugleich voller Erschütterungen mit dem Keim zukünftiger unheilvoller Entwicklung.

Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg als zweiter großer Abschnitt unserer 100jährigen Geschichte ist erfüllt von dem Auf und Ab der 20er und 30er Jahre mit den Stichworten "Inflation", "Weltwirtschaftskrise" und den dunkelsten Jahren der deutschen Geschichte.

Aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg sind folgende wesentliche und nachhaltige Änderungen hervorzuheben:

1923 trat das erste Jugendgerichtsgesetz in Kraft, das erstmals ein besonderes Jugendstrafrecht nach erzieherischen Grundsätzen entwickelte und völlig vom überkommenen allgemeinen Strafrecht abwich. 1944 wurde es durch das Reichsjugendgerichtsgesetz ersetzt, an dessen Stelle 1953 das neue Jugendgerichtsgesetz trat.

Am 1. Oktober 1923 trat das Gesetz über Mieterschutz in Kraft. Es wurden zunächst Mieteinigungsämter eingerichtet, die zwar bei den Gemeinden bestanden, aber mit Vorsitzenden aus dem Kreise der Richter besetzt wurden. BeschwerdesteIle wurde eine Zivilkammer des Landgerichts. Später wurden die Geschäfte der Mieteinigungsämter den Amtsgerichten übertragen. Die Klagen auf Aufhebung von Mietverhältnissen entschied das Amtsgericht als Mietschöffengericht unter Zuziehung von je einem Vermieter und Mieterbeisitzer. Seit dem 1. Januar 1932 wurden Beisitzer nicht mehr herangezogen.

 

Am 15. Juli 1925 begannen nach dem sog. Aufwertungsgesetz die bei den Amtsgerichten gebildeten Aufwertungsstellen ihre Tätigkeit. Hier wurde im Laufe der Jahre eine ungeheure Arbeit geleistet, um die wirtschaftlichen Schäden, die die Geldentwertung von 1919 - 1923 gebracht hatte, nach Möglichkeit auszugleichen.

Die Aufwertungsgesetzgebung machte anschließend eine Bereinigung der Grundbücher auf Grund eines besonderen Gesetzes erforderlich.

Drittens umfaßt unser Rückblick die Zeit des Aufbaus nach 1945, der Begründung und Stabilisierung einer Demokratie in unserem sozialen Rechtsstaat.

Unser Haus hat diese ganze Entwicklung überstanden. Wenn es für die Bedürfnisse der modernen Justiz nicht längst zu klein geworden wäre, würde es das Gericht sicher noch weitere 100 Jahre beherbergen können.Amtsgericht Solingen nach dem Anbau 1898

 

 

Abb. 5: Amtsgericht Solingen nach dem Anbau von 1898

 

 

Das Haus und die Bezeichnung "Amtsgericht" sind geblieben; die Grundzüge des gerichtlichen Verfahrens haben sich nicht wesentlich geändert. Grundlegend verändert ist die politische Landschaft. Am Beginn unserer Geschichte wurden die Sozialdemokraten verfolgt, inhaftiert und mit harten Strafen belegt. Nach wenigen Jahrzehnten schon bestimmten sie die Politik und bildeten - wie auch heute - maßgeblich die Regierung. Völlig anders ist die Einstellung der Menschen zum Recht und zur Justiz geworden. Unsere Zeit wird bestimmt von der Suche nach der richtigen mitmenschlichen Einstellung. Wir wollen nicht in erster Linie strafen, sondern helfen, ja sogar heilen.

Wir wollen, dass möglichst jeder zu seinem Recht kommt. Wir ringen um die richtige Form und setzen uns für die schnelle Abwicklung der Verfahren ein.

Wir sind größer geworden. 1879 versammelten sich 3 Richter und etwa 11 Beamte im Saale, um das Amtsgericht zu eröffnen. Heute arbeiten 16 Richter und mehr als 150 Beamte und Angestellte in unserem Gericht. Ganz neu sind die Rechtspfleger hinzugekommen, die im Vergleich zu früher einen großen Teil der richterlichen Geschäfte in sachlicher Unabhängigkeit bearbeiten. Die Zuständigkeiten sind erweitert und ausgedehnt worden. Die Familiengerichtsbarkeit und weitere Sachgebiete sind in eine große Nebenstelle ausgelagert worden.

Der seit Jahrzehnten geplante Neubau ist in Sicht. Er kann nur in Zusammenarbeit mit der Stadt Solingen verwirklicht werden.

Diese Chronik sollte zeigen, wie stark in den letzten hundert Jahren die Verbindung zwischen Stadt und Gericht gewesen ist, wie eng sich das Gericht mit der Bevölkerung verbunden fühlt, und wie stark daher auch die Hoffnungen sind, den Menschen unserer Heimat im Sinne des Rechts und der Gerechtigkeit zu dienen.

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[1] Akten des Stadtarchivs Solingen C I 2 Band I spec
[2] Generalakten des königlichen Landgerichts Elberfeld betreffend Bauakten, betreffend das Geschäftslokal des Amtsgerichts Solingen, IX 13, Landgericht Wuppertal
[3] Akten des Stadtarchivs Solingen C I 2 Band I spec.
[4] Bergische Zeitung vom 6./8.10.1879; Stadtarchiv Solingen Solinger Kreis- Intelligenzblatt vom 8.10.1879
[5  Akten des Stadtarchivs Solingen C I 2 Band I spec.
[6] Akten des Stadtarchivs Solingen C I 2 Band I spec.
[7] Generalakten des königlichen Landgerichts Elberfeld betreffend Bauakten, betreffend das Geschäftslokal des Amtsgerichts Solingen, IX 13, Landgericht Wuppertal
[8] Generalakten des königlichen Landgerichts Elberfeld betreffend Bauakten, betreffend das Geschäftslokal des Amtsgerichts Solingen, IX 13, Landgericht Wuppertal
[9] Rheinische Post vom 1.7.1957
[10] Generalakten des königlichen Landgerichts Elberfeld betreffend Bauakten, betreffend das Geschäftslokal des Amtsgerichts Solingen, IX 13, Landgericht Wuppertal
[11] Generalakten des königlichen Landgerichts Elberfeld betreffend Bauakten, betreffend das Geschäftslokal des Amtsgerichts Solingen, IX 13, Landgericht Wuppertal
[12] Generalakten des königlichen Landgerichts zu Elberfeld betreffend Einrichtung und Besetzung, Beurlaubungen und Stellvertretung bei dem Amtsgericht Solingen seit 1894, Landgericht Wuppertal
[13] Akten des Stadtarchivs Solingen C I I Band I spec.
[14] Generalakten des königlichen Landgerichts zu Elberfeld betreffend Einrichtung und Besetzung, Beurlaubungen sowie Stellvertretung bei dem Amtsgericht Solingen, beginnend mit dem Jahre 1887
[15] Generalakten des königlichen Landgerichts zu Elberfeld betreffend Einrichtung und Besetzung, Beurlaubungen sowie Stellvertretung bei dem Amtsgericht Solingen, beginnend mit dem Jahre 1887
[16] Generalakten des königlichen Landgerichts zu Elberfeld betreffend Einrichtung und Besetzung, Beurlaubungen und Stellvertretungen bei dem Amtsgericht Solingen, beginnend mit dem. Jahre 1898, Landgericht Wuppertal
[17] Generalakten des königlichen Landgerichts zu Elberfeld betreffend Einrichtung und Besetzung, Beurlaubungen sowie Stellvertretung bei dem Amtsgericht Solingen, beginnend mit dem Jahre 1887
[18] Generalakten des königlichen Landgerichts zu Elberfeld betreffend Einrichtung und Besetzung, Beurlaubungen sowie Stellvertretung bei dem Amtsgericht Solingen, beginnend mit dem Jahre 1887
[19] RosenthaI, Geschichte einer Stadt Band 11, Solingen, Seite 271
[20] Akten des Stadtarchivs Solingen C I I Band I spec.
[21] Akten des Stadtarchivs Solingen C I I Band I spec.
[22] Westdeutsche Neue Presse; Rheinische Post; Solinger Tageblatt vom 8.8.1953
[23] Rheinische Post vom 14.3.1953